April-Andacht 2025
Wo lassen Sie denken?
Eines Nachts träumte mir, ich sei in einen Laden gegangen. Hinter der Theke stand ein Engel. Ich fragte ihn: „Was verkaufen Sie?“ Der Engel antwortete freundlich: „Alles, was Sie wollen“. Da begann ich aufzuzählen: „Dann hätte ich gerne das Ende aller Kriege, Brot für die Hungernden, Heilung für die Kranken, Trost für die Trauernden, mehr Liebe in der Welt“. Da schüttelte der Engel bedauernd den Kopf: „Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl falsch ausgedrückt. Bei mir gibt es keine Früchte, bei mir gibt es nur die Samen."
Wo lassen Sie denken? Nutzen wir „Meinungslieferando“ oder verlassen wir uns auf eine „Standpunkt-Bubble“?
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit (2. Tim. 1,7). Und trotzdem sind wir es nicht gewohnt, mit Ambivalenzen umzugehen und Widersprüche auszuhalten: wie herrlich ist doch der eindeutige Standpunkt und das rigorose Urteil!
Aber so funktioniert es nicht. Das Christentum setzt ein riesiges Fragezeichen hinter die ganze Welt und lauter kleine Fragezeichen hinter alle angeblichen Gewissheiten: Christ zu sein bedeutet, einen hoffnungsvollen Zweifel an allem zu hegen. Glauben bedeutet: mit Gott rechnen. Und das nicht nur in einer fernen Unendlichkeit: selbst denken, selbst fragen, selbst erfahren!
Gott hat die Menschen frei gemacht. Und er trägt dieser Freiheit Rechnung, indem er uns die Wahl lässt, zu denken, oder nicht zu denken, zu erfahren, oder nicht zu erfahren, zu glauben, oder nicht zu glauben: Freiheit der Wahl ist der andere Name seines Geheimnisses. Aber kennen wir auch das 11. Gebot: „Du sollst nicht gleichgültig sein?“
Die Ankündigungsbulle für das Heilige Jahr trägt den Titel „spes non confundit“: Die Hoffnung lässt nicht zugrunde gehen. Christentum ist mehr als ein Identitätsmarker, ein wohlfeiles Bekenntnis in der Öffentlichkeit. Christentum fordert! Ehrlich zu sich selbst zu sein: selbst denken, selbst fragen, selbst erfahren. Wer nicht forscht, muss alles glauben!
Das Gegenteil von Glaube ist Angst (und die essen bekanntlich Seele auf, Rainer Werner Fassbinder). Und Angstmacher gibt es allerorten.
Mit seiner Haltung, mit seinem Glauben an das „Fürchtet Euch nicht“ hat Alexej Nawalny andere gestärkt. In den letzten Sätzen seines Buches heißt es: „Du liegst in Deinem Stockbett, schaust auf das Bett über dir, und fragst dich, ob du im tiefsten Herzen Christ bist. Es ist nicht entscheidend, ob du glaubst, dass ein paar alte Männer in der Wüste einst achthundert Jahre alt wurden, oder dass sich tatsächlich das Rote Meer vor jemandem teilte. Aber du bist ein Anhänger der Religion, dessen Gründer sich für andere opferte, und den Preis für ihre Sünden zahlte. Glaubst du ehrlich an die Unsterblichkeit der Seele und das ganze andere coole Zeug? Wenn du aufrichtig mit JA antworten kannst: worüber musst du dir dann noch Sorgen machen?“
„Mach alles neu und lass uns Deine neue Welt sein: hier auf Erden“: nicht irgendwer – irgendwo – irgendwann. Gottes Dimensionen sind nicht unsere Dimensionen: Die erste Generation des Exodus hat das gelobte Land nicht erreicht. Glauben heißt nicht etwas machen, sondern etwas mit sich geschehen lassen.
Was klug ist, dafür ist die Großmutter des israelischen Schriftstellers Amoz Oz ein wunderbares Beispiel. Zum ewigen Streit zwischen Juden und Christen, ob der Messias schon gekommen sei, oder erst noch kommen wird, sagt sie: „Ist es so wichtig? Warum kann nicht jeder einfach abwarten und schauen? Falls der Messias kommt und sagt: >Hallo, schön, Euch wiederzusehen!<, müssen die Juden nachgeben. Falls er aber sagt: >Hallo, wie geht´s? Schön, mal hier zu sein!<, wird die gesamte christliche Welt sich bei den Juden entschuldigen müssen.
Wo lassen Sie denken?
(Gunther Maasberg)